Ich lebe jetzt schon 15 Jahre in Westdeutschland. Und wenn ich diesen Satz hier so äußern würde, sähe ich mich sofort mit ein paar verschnupft dreinschauenden Mienen konfrontiert. Wahrscheinlich würde es dabei bleiben, denn hier sagt man nicht immer direkt, was man denkt (mit allen Vor- und Nachteilen dieser Praxis). Manchmal jedoch äußert auch jemand seine Meinung dazu und die ist fast immer: „Was soll denn dieses Spalterische, wir sind doch schon längst ein Land, warum muss immer künstlich einen Keil dazwischen treiben?“ Und ich möchte anmerken, diese Haltung ist fast ausschließlich Menschen zu eigen, die Darmstadt und seinen Umkreis noch nie längere Zeit verlassen haben. Also die, die am wenigsten gut wissen können, ob der Keil künstlich ist oder einfach da.
Es sind auch diese Menschen, die den ausgeprägtestesten „Anti-Ost-Reflex“ haben. Den kann man sehr gut testen, indem man irgendetwas Positives über Ostdeutschland sagt (z.B. „Frauen und Ostdeutschland sind emanzipierter“ oder „durch die Erlebnisse der 90er Jahre ist meine Generation deutlich politisierter als ihre Altersgenossen hier“) und sofort kommt eine abwehrende Antwort zurück. „Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.“ oder einfach „Das stimmt nicht“. Ich bin noch nicht ganz da, wo ich diese unreflektierte Abwehr alles Positiven in Ostdeutschland (und kommt, dass es das nicht gibt, ist ja wohl einfach unwahrscheinlich) nur noch amüsant finden würde, aber ich bemühe mich sehr, Frust macht ja nur Falten. Umgedreht werden negative Nachrichten über Ostdeutschland mit offenen Armen empfangen. „Die Nazi sind dort besonders schlimm?“ Klar! (stimmt wahrscheinlich auch) oder „Nur die Dummen sind dort geblieben, wer intelligent war, ist in den Westen gegangen“. (stimmt so nicht und wäre dann wahrscheinlich auch für alle westdeutschen Abwanderungsgebiete richtig). Schön illustriert wird das am Buch von Anne Rabe, das dieses Jahr erschienen ist: „Die Möglichkeit von Glück“. In diesem macht sie sich auf, die angeblich allgegenwärtige Gewalt in Ostdeutschland (die ja eigentlich eher ein Phänomen der Transformationsszeit der 90er war) mit der ostdeutschen Geschichte zu erklären. Genauer gesagt mit ihrer Familiengeschichte. Das Buch hat mich und alle anderen, mit denen ich darüber gesprochen habe, verwirrt zurück gelassen. Denn sie erklärt nichts. Es ist ein Buch, was das Drama einer Familie schildert, aber was das ganze mit ostdeutscher Gesellschaftskultur zu tun hat, wird nur in Ansätzen klar. Vielleicht war es eine Verkaufsfinte von ihrem Verlag. Wenn ja – ein sehr erfolgreiche, denn wie kein anderes, in den letzten zwei Jahren erschienenes Buch zu Ostdeutschland, wird es in Westdeutschland begeistert rezipiert…denn es unterstellt den Ostdeutschen als Gesamtheit eine Neigung zur Gewalt und das wird gern gehört.
Und jetzt zurück zum Beginn. Ich fände es auch schön, wenn wir uns endlich als ein Land bezeichnen könnten. In vieler Hinsicht sind wir das auch. Aber wenn ich keinen Unterschied mehr zwischen Ost- und Westdeutschland machen soll, dann kann meine Heimat nicht nur die Projektionsfläche alles Negativen sein. Wenn wir ein Land sein wollen, dann doch idealerweise mit dem Besten, was beide Landesteile zu bieten haben. Mensch, würde das helfen, uns allen.
Zwei Schulen
Die neue Schule sieht der alten irritierend ähnlich. Der gleiche Eingang, die gleiche geschwungene Treppe nach oben. Der u-förmige Bau mit der Sporthalle auf der linken und dem Hortgebäude auf der rechten Seite. Die Fenster mit den sechs Teilen, der gepflasterte Hof. Typ SVB, lerne ich später. In der DDR sah viel gleich aus. Doch das ist nicht mehr die DDR, es ist auch noch nicht BRD und das wird ein Problem werden. Denn in der DDR sah nicht nur viel gleich aus, es war auch vieles gleich. Alle Kinder auf der gleichen Schule, alle Eltern im Kombinat und alle Bürger mit der gleichen politischen Einstellung (theoretisch). Jetzt ändert sich all das und Veränderungsprozesse sind nicht immer schön. Nur hat mir das noch niemand gesagt.
Ich betrete die neue Schule und verlasse das Schulsystem der DDR, die schon seit gut einem Jahr aufgehört hat zu existieren. Ich bin jetzt kein Kind mehr, das mit allen anderen auf eine Schule geht, ich gehe jetzt auf eine Regelschule, oder „die Schule für schlechte Schüler“. Das hat keiner der Erwachsenen so genannt, aber es ist klar. Es gibt auch eine „Schule für gute Schüler“, das Gymnasium. Meine alte Schule ist jetzt ein Gymnasium und ungünstigerweise sind viele meiner Freunde dort geblieben. Außer meiner besten Freundin, die ist gar nicht mehr hier, sondern auf einer „Hauptschule“ in Bayern. Für mich ein Land weit, weit weg. Ich beiße die Zähne zusammen und wünschte sie wäre da.
Auf der neuen Schule, die aussieht wie die alte, wird es keine Pioniere geben, keine Altstoffsammlungen und keine Klassenratsvorsitzenden. Zum Glück auch keine fiese Hortnerin und keinen Russischunterricht für mich. Nichts davon werde ich vermissen. Es wird aber auch keine Klasse geben, die ich seit sieben Jahren kenne, keine verlässlichen Strukturen, kein Richtig und Falsch und, das weiß ich noch nicht, keine Sicherheit.
In der neuen Schule, die aussieht wie die alte, werde ich das Wendechaos durchleben, mit all seinen, oft hässlichen, Auswirkungen. In einem Jahr werde ich genau wissen, wie Neonazis aussehen, welche Kleidung sie tragen und wie furchterregend sie sind. Ich werde verstehen, dass ich mich nicht darauf verlassen kann, dass Erwachsene mich schützen oder in ihrer Überforderung überhaupt wahrnehmen, dass es mir nicht gut geht. Ich werde Angst haben, mich ohnmächtig fühlen und irgendwann verstehen, dass mir keiner helfen kann, will und wird. Mehr als alles andere, wird das mich verunsichern, denn ich verstehe nicht, warum ich plötzlich in einer Welt lebe, in der Schutz vor Gewalt nicht mehr wichtig ist.
Drei Jahre später verlasse ich die Schule und gehe auf eine neue, die kein Typ SVB ist. Sie wird gut sein, sicherer. Und doch werden mich diese drei Jahre lange nicht verlassen. Weil man zwischen 13 und 16 ein Stück weit lernt, in der Erwachsenenwelt zu leben und für mich dies eine Welt voller Bedrohungen ist. Eine in der es gefährlich ist, eine andere Meinung zu haben. Eine in der man darauf achten muss, gemocht zu werden und eine, in der man nie auffallen darf.
Jahrelang werde ich viel Energie in die Kontrolle meiner sozialen Beziehungen stecken. Alle werden mich immer „nett“ finden. Ich werde in Beruf und Schule erfolgreich sein, um nie wieder aussortiert zu werden. Streiten werde ich mich ausschließlich mit Familie und engen Freunden. Wenn ich doch mal mit jemand weniger gut Bekannten aneinander gerate, wird es mich oft wochenlang beschäftigen.
Das wird viele Jahre gut gehen. Dann bekomme ich zwei Kinder und meine Energie wird endlich. Dafür werden meine Sorgen, dass ihnen, in dieser gefährlichen, unsicheren Welt, etwas Schlimmes passieren könnte, sehr groß. Aber noch wirkt die Welt sicher, planbar. Dann bekomme ich eine neue Chefin, die meine Arbeit nicht mehr schätzt. Dann wird mein Vater schwer krank und dann kommt Corona. Die Welt, die sich jahrelang sicher und kontrollierbar angefühlt hat, beginnt zusammen zu brechen und ich mit ihr.
Es dauert weitere zwei Jahre, bis ich verstehe, dass es viele Dinge waren, die mich Energie gekostet haben. Aber, dass es auch die Wende war. Dass diese Zeit im Chaos, in der keiner wusste, wie es weitergeht und niemand auf uns Kinder achten konnte, in mir ein Gefühl der Bedrohung hinterlassen hat, das mich mein ganzes Leben begleitet hat. Es ist schwer, das zu verstehen, weil es noch so wenig andere verstanden haben. Weil man jahrelang ein „Jammerossi“ war, wenn man nicht einfach nur froh über die Wende war.
Ich bin froh und dankbar. Für das freiere Leben, für die vielen Länder, die ich gesehen habe, für die Möglichkeit zu studieren, für die Möglichkeit mein Leben so zu leben, wie ich das entscheide und möchte. Dafür, dass ich in der Schule Inhalte lehren darf, die sich mit meinen Überzeugungen decken. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass die frühen Neunziger in Ostdeutschland brutal und unschön waren. Dass es kein guter Ort war um 13, 14 oder 15 Jahre alt zu sein und, dass diese Zeit mein Leben und das vieler anderer negativ beeinflusst hat.
Darüber zu sprechen muss möglich sein, ohne als schwach oder undankbar zu gelten. Und wenn das möglich ist, wenn die Härte der Transformationszeit anerkannt wird, dann wird vielleicht auch die Wut, die in Ostdeutschland existiert, milder werden. Denn die Wende war nicht so, wie sich das viele meiner Darmstädter Freunde vorstellen. Es war nicht nur der Fall der Mauer und dann lebten wir im Westen. Dazwischen gab es eine Zeit, in der zunächst alles, was wir kannten, verschwand und durch Chaos ersetzt wurde. Der neue Staat versagte in unseren Augen erstmal, bevor er funktionierte. Viele, die heute Mitte 40 sind und Wut auf den „Staat“ verspüren, haben diese Zeit als Jugendliche miterlebt. Mich wundert nicht, wo die Staatsskepsis herkommt. Natürlich sind diese Gefühle unreflektiert und wenig zielführend, wenn man davon ausgeht, dass die meisten Menschen eigentlich Sicherheit und Stabilität suchen. Aber solange es keinen Raum für die Reflexion dieser Erlebnisse gibt, werden sie bleiben und stören, bis sie gesehen werden.
Von Schulen und Autobahnen
Vor einigen Jahren hatte meine Tochter Handballtraining in einer wirklich heruntergekommenen Schulturnhalle in Hessen. So ekelig und kaputt, dass das Spülwasser im Klo gelb war und stank und, dass die Heizung Sommers wie Winters nicht auszudrehen war. Wer in Hessen irgendetwas mit Schule zu tun hat weiß – das ist keine Ausnahme. Eine Freundin meiner Tochter, die mit war, hat mazedonische Eltern. Irgendwann traute sich die Mutter mich zu fragen: „Sag mal, warum sehen in Deutschland eigentlich die Schulen so schlimm aus und die Autobahnen so gut?“.
Und ich würde sagen, diese Frage beinhaltet alle Antworten auf die gegenwärtige Schulmisere, die man braucht. Natürlich wird es kurzfristig vielleicht gut aussehen, wenn man die Lehrerstunden erhöht und rein nominell wieder mehr Matheunterricht abgedeckt ist. Aber niemand, der bei klaren Verstand ist, kann glauben, dass das irgendeine Lösung darstellt.
Der Grund für die Schulmisere liegt darin, dass die Strukturen Mist sind, dass Menschen über Schule entscheiden, die Lehrer*innen aus ihrer eigenen Schulzeit noch immer als die Endgegener im Kampf um den Abischnitt wahrnehmen und, dass es nur wenigen Politikern wirklich etwas bedeutet, wie es Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen geht. Denn gewählt werden die Politiker ja eher von Rentnern, denen die Autobahn eben wichtiger ist, als die Schule. Ich würde sagen…gebt den Eltern doch ein Wahlrecht für Ihre Kinder – ich bin mir sicher, die Heizung in der ekeligen Turnhalle wäre innerhalb von Tagen repariert und vielleicht könnte man ja auch mal schauen, wo der Klogestank herkommt.
Nullerjahre
Vor einigen Wochen schrieb mich eine Freundin an. Ob ich mitkommen wolle zu einer Lesung. Sie erzählte von einem HipHop-Duo aus Berlin, von denen einer aus ihrer Heimat käme und der andere aus Ostdeutschland. Von einem Podcast, denn ich unbedingt hören müsse. Ich höre keine Podcasts und brummelte etwas verhalten Zustimmendes. Aber zur Lesung wollte ich mit – hatte ich mir doch vorgenommen, endlich aus dem Corona-Sofa-Loch hervorzukommen und wieder mehr zu machen. Direkt davor bereute ich es natürlich – was interssierte mich ein HipHopper aus Berlin? Nichts könnte ferner von meiner Lebensrealität sein. Außerdem musste ich am Mittwoch früh raus. Aber ich hatte Eintritt bezahlt, es versprochen und wollte ja ohnehin von meinem durchgessenen Sofa runter.
Und so saß ich am Dienstag Abend auf einem harten Holzstuhl in der Darmstädter Centralstation, als drei Menschen schwungvoll auf die Bühne traten. Einer hatte ein gelbes Buch in der Hand und begann es mit den Worten vorzustellen: „Die Generation, die zehn Jahre vor mir im Osten geboren wurde, hat die DDR noch erlebt und ihre Jugend im Chaos verbracht. Wir sind gleich ins Chaos hineingeboren wurden.“ Ich rutschte auf meinem Holzstuhl ein Stück vor und fixierte ihn – da sprach jemand mit der größten Selbstverständlichkeit vom Chaos, als das ich meine Jugend empfunden hatte, so als wäre es eine Tatsache. Und von einer Generation, die ich immer ein wenig beneidet hatte: die nach mir – weil ich dachte, dass sie diesen Umbruch nicht mehr erleben mussten. Aber natürlich – Kindheitschaos ist vermutlich nicht viel angenehmer als Jugendchaos. Hendrik Bolz, der HipHopper mit der vermutet fernen Lebensrealität, hatte meine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Den Rest des Abends und eigentlich die darauffolgenden Wochen, verbrachte ich in einer gewissen inneren Aufruhr. Hendrik Bolz las von Hoffnungslosigkeit, fehlenden Grenzen und einer Atmosphäre von Gewalt, wie ich sie Anfang der 90er auf der Realschule in Jena erlebt hatte. Ich hatte das immer für eine individuelle Erfahrung gehalten und vermutet, dass ich – behütetes Kind einer Akademikerfamilie – zu empfindlich gewesen war und harmlose Dinge als zu dramatisch wahrgenommen hatte. Aber er beschrieb genau das und es klang auch in seiner Beschreibung dramatisch – war das vielleicht ein strukturelles Problem der Nachwendezeit gewesen und gar nicht mein persönliches?
In den folgenden Wochen kann ich das Buch noch nicht lesen. Aber ich höre zum ersten Mal einen Podcast, den, „Testo“ (so der Künstlername von Hendrik Bolz) gemeinsam mit dem anderen Teil von des HipHopperDuos „Zugezogen Maskulin“ betreibt. Höre Geschichten vom Aufwachsen in West- und Ostdeutschland und in den ostdeutschen Geschichten immer wieder das gleiche Erleben von Chaos, Gewalt und Haltlosigkeit, das ich auch empfunden hatte. Ich entdecke einen mir bis dahin unbekannten Hashtag auf Twitter, die #baseballschlägerjahre, und lese dort Geschichten von brutaler Nazigewalt, von Schlägen, Rennen und abwesender Polizei. Und langsam beginnt sich mein eigenes Erleben in diese Geschichten einzuordnen und lang verschüttete Bruchstücke tauchen auf.
Von Kindern, die durch durch ein Loch im Schulzaun auf die benachbarte, verlassene Sowjetkaserne kriechen und im Boden Munition finden, die sie mit auf dem Schulhof nehmen. Von Lehrer*innen, die hilflos und verängstigt vorn stehen, während die ganze Klasse die Tische grölend auf sie zuschiebt, bis sie weinend rausrennen. Von Kindern, die im Unterricht so schlimm geärgert werden, dass sie nicht mehr zur Schule kommen. Von Prügeleien vor der Schule, bei denen Kinder zu Boden getreten und weiter geschlagen werden, ohne das jemand eingreift. Von Schlägern, die am nächsten Tag versuchen, sich mit mir normal zu unterhalten, als wäre das keine Ausnahmesituation gewesen. Von einer Polizei, die nicht kommt, von SS-Runen und Hakenkreuzen, die im Unterricht herumgehen. Von Lehrer*innen, die nichts dazu sagen, weil sie auch nicht wissen, ob das jetzt richtig oder falsch ist im neuen Staat. Von Unterricht, der nicht stattfindet, weil die Lehrer*innen auf Fortbildung, ständig auf Fortbildung sind. Von Lehrplänen, die noch gar nicht da sind. Und von Angst. Von Lehrer*innen, die auf dem Schulausflug zueinander sagen „Vor dem Tobias, da hab ich echt Angst, der ist dumm und gewalttätig.“, die aber trotzdem nicht gegen ihn vorgehen. Von Glatzen, Springerstiefeln, betrunkenen Skinheads, der Angst Straßenbahn zu fahren, von Demütigungen, Alkohol, Drogen, Orientierungslosigkeit und Nazis, die plötzlich allgegenwärtig sind. Von meiner eigenen 13jährigen Unfähigkeit die Welt, die ich in der Schule erlebe mit den Werten von zu Hause und den Büchern in Einklang zu bekommen, die ich lese. Von Mitschülern ohne Haare und in Springerstiefeln, die im ersten Anlauf im Bewerbungsgespräch bei der Polizei genommen werden. Von einer Polizei, die nicht kommt, wenn sie zu Nazischlägereien gerufen wird, die aber Mitglieder der Jungen Gemeinde Stadtmitte für 30 Minuten an der Wand stehen lässt, um ein Gramm Hashisch zu finden. Von der tiefen ungläubigen Verwunderung darüber, was mit meiner Welt passiert und warum ich dort nicht mehr hineinpasse. Von abwesenden Erwachsenen, die so gefordert vom Umbruch sind, dass sie uns nicht mehr sehen. Und von dem unglaublichen Gefühl von Sicherheit, Ordnung und Zuverlässigkeit, das ich empfinde, wenn ich meine Großcousine in Münster/Westfahlen besuche, in einer Welt, die sich nicht mehr von meiner unterscheiden könnte und um die ich sie so sehr beneide.
Über Weihnachten lese ich endlich das Buch. Und verstehe zum ersten Mal, wie sich die, die prügelten, mobbten und provozierten vielleicht gefühlt haben. Und ich verstehe auch zum ersten Mal, dass ich nicht zu empfindlich war, dass die Angst vor Hass, Gewalt und Regellosigkeit völlig angemessen war, in dem Umfeld, in dem ich mich damals bewegte. Es ist als würde sich in meinem Inneren etwas verschieben, plötzlich rücken viele Puzzleteile auf eine andere Stelle. Das Puzzle ist noch lange nicht fertig, aber ich bin der Freundin dankbar, dass sie mich von Coronasofa gezerrt hat und Hendrik Bolz für ein ungewöhnlich klarsichtiges Buch, das, zumindest für mich, sehr wichtig war zu lesen.
Die große Leere im Lockdown
Kennt ihr das? Das Gefühl dieser merkwürdigen Leere vor euch? Keine Pläne, keine Urlaube, keine Events – nur der nächste Tag, der verdächtig so wirkt wie der heute und der davor. Willkommen im Lockdown. Nach sieben Wochen beginnt es in mir zu Kribbeln. Ich habe das Gefühl etwas tun zu müssen, etwas planen zu müssen. Ein neues Hobby vielleicht? Einen Onlineabend mit Freunden? Eine weltverändernde Idee?
Ich war seit meiner Kindheit nicht mehr hier, wo nur das Jetzt zählt. Spätestens seit Ende der Schule ist Zeit kostbar und will genutzt werden. „Carpe diem“ stand auf den T-Shirts meiner Studienstiftung. Aber wie carpetet man den Tag, der einfach nur da ist? Und der morgige Tag auch einfach nur da sein wird? In der Ruhe des Lockdowns dringt die leise Fragen an die Oberfläche, wie das Leben eigentlich gelebt werden will. Und die Tagesschau-Todeszahlen schärfen das Bewusstsein dafür, dass dieses Leben endlich ist. Beide Erkenntnisse sind zu Beginn so angenehm wie ein kratzender alter Wollpulli. Aber dann, manchmal, fällt für einen Moment der Stress ab. Was, wenn es gar nicht nötig ist zu planen, jeden Tag zu nutzen, sich immer weiter zu verbessern? Ohne Corona macht diese Erkenntnis Angst, schließlich könnte sie dazu führen, im Wettlauf des Lebens den Anschluss zu verlieren. Keine coolen Urlaube mehr zu machen, nicht mehr die hippsten Sachen zu besitzen und sich nicht mehr ständig zu verbessern. Wie stand in meinem Poesieheft der zweiten Klasse: „Lernen ist wie Rudern gegen einen Strom, wer sich treiben lässt fällt zurück“. Der Spruch hat mir schon damals Angst gemacht. Was aber, wenn das alles Quatsch ist? Ich dachte immer, irgendwo ankommen zu müssen, Erwartungen erfüllen zu müssen und dann würde ich glücklich sein. Jetzt gibt es keine Erwartungen mehr, außer der, hier durchzukommen ohne wahnsinnig zu werden.
Und dann fällt mir ein Gespräch mit einem indischen Freund ein. Wir waren Mitte 20, er war bei uns zu Besuch und wir unterhielten uns darüber, wie wir unsere Wochenenden verbringen. Gagan meinte, er würde aufstehen, frühstücken und dann mal rausgehen, schauen wer da ist. Ich starrte ihn an. Selbst mit Mitte 20 waren meine Wochenendaktivitäten meist einen Monat im Voraus geplant – sonst hätte hier ja keiner mehr Zeit. Jetzt starrte Gagan mich an: „You Germans are crazy“. Und da hat er vielleicht Recht. Leben kann ja auch einfach mal gelebt werden, ohne geplant zu sein. Vielleicht nehme ich das auch der Lockdown-Leere mit. Das und die Erkenntnis, dass das Einzige, was ich wirklich vermisse andere Menschen sind. Und, dass ich mich sehr auf sie freue.
Suche das Positive
Letzte Woche habe ich mit meinen (von den neuen Beschränkungen deprimierten) Schüler*innen Mindmaps erstellt. Darauf sollten sie all die Dinge schreiben, die sie noch tun können, selbst wenn so viel grade nicht mehr geht. Nach den Stunden fühlte ich mich gut und dachte „wird schon“. Neue Woche, neue Probleme und plötzlich ist hier nix mehr entpannt und ich bräuchte selbst eine „Positiv-Mindmap“.
Seit letzter Woche ist Hessen in der Oberstufe zum „Wechselmodell“ übergegangen. Das heißt, in der A-Woche ist die Hälfte des Kurses da, in der B-Woche die andere Hälfte. Wer nicht da ist, wird digital unterrichtet. Klingt gut? Tut es auch, nur hat man vergessen den Lehrer zu klonen. Der muss nämlich beides machen: Distanzunterricht, Präsenzunterricht und dann noch den Digitalunterricht für die Schüler*innen in Quarantäne. Das war ja alles (mit ein paar durchgearbeiteten Sonntagen) noch möglich. Allerdings schrieb dann heute der Hort meines Kindes, dass sie ab nächster Woche nicht mehr betreuen können – Personalmangel, zu viele Risikogruppen irgend so was. Und jetzt? Müsste ich an dem durchgearbeiteten Sonntag noch für die Woche vorkochen und mich nochmal klonen lassen, um mein Kind zwei Mal die Woche von der Schule abzuholen. Mein Unterricht geht nämlich länger als der Grundschulunterricht. Und für alle, die jetzt fragen wollen „und wo ist dein Mann?“ Na, der passt auf die Kinder auf, während ich den Sonntag durcharbeite und holt an den anderen drei Tagen ab.
Also alles nicht so leicht grade. Der Mann ist deprimiert von der Gesamtsituation, dass Kind sowieso sauer, weil die besten Freunde in der anderen Kohorte gelandet sind und ich auch nicht mehr ganz so happy mit der vielen Arbeit. Suche das Positive…es wäre ja auch irgendwie schön, wenn wir hier durchkämen, ohne wahnsinnig zu werden.
Also, wo sind die Chancen, die guten Sachen an dieser nervigen Krise? Na ja, erstmal vielleicht darin, dass ich gelernt habe, was „radikale Akzeptanz“ bedeutet. Also nicht zu jammern, weil etwas so ist, wie es ist und wie unfair das ist (konnte ich früher total gut), sondern zu überlegen, was könnte es denn Gutes daran geben? Mir fällt mittlerweile tatsächlich immer ziemlich schnell etwas ein: Wenn das Kind zu Hause bleibt, minimieren wir den Kreis unserer Sozialkontakte massiv: Im Hort ist nämlich nicht nur ihre Klasse, sondern Kinder aus drei verschiedenen Grundschulen, sowie Kindergartenkinder. Also kriegen wir das mit „nur ein Viertel der Kontakte“ super gewuppt. Außerdem zweifele ich grade ganz schön, ob ich das in der Schule noch lange so mitmachen möchte. Und die Tatsache, dass ich jetzt an vier Tagen der Woche keine Kinderbetreuung mehr habe, gibt vielleicht einen guten Ausweg (wenn ich das möchte). Also gar nicht so schlecht vielleicht. Und in der vielen Zeit, die ich dann zu Hause verbringe, kann ich endlich mal Klavier lernen, per YouTube – wollte ich schon seit ich ein Kind war und ein Keyboard staubt noch im Keller ein. Wer also sagt, das Positive sei nicht zu finden , der lügt. Wer allerdings sagt, das hier sei eine super Zeit – der hat vielleicht ein bisschen zu lange durch die Positivbrille geschaut. Da muss man auch vorsichtig sein.
3. Oktober 2020
Morgen ist der deutsche Nationalfeiertag. Früher in unserer Ost-West-Deutschen WG in Jena, haben wir immer darauf angestoßen und uns gefreut, das wir zusammen sein konnten. Das fand ich sehr schön. Hier geht das Thema eher unter. Außer in den Medien (die wahrscheinlich auch froh sind mal über etwas anderes als Trump und das Coronavirus schreiben zu können). Und wie immer, sind die Artikel noch ok, aber bei den Kommentaren darunter wird es schwierig.
Ich finde dabei besonders eine Korrelation interessant: Diejenigen, die „überhaupt nicht verstehen, was die Ostdeutschen nach 30 Jahren noch zu meckern haben“ sind gleichzeitig auch diejenigen, die das westdeutsche System absolut setzen. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen kompliziert, aber ich meine damit, dass es viele Menschen in Westdeutschland gibt, die glauben, das politische und wirtschaftliche System der Bundesrepublik sei in einem höheren Sinne „richtig“. Während das System der DDR „falsch“ gewesen sei. Es ist schwierig mit Menschen, die von einer solchen Grundannahme ausgehen, über biografische Brüche und Anpassungsleistungen zu sprechen. Denn, wenn das System der Bundesrepublik „richtig“ ist, muss die Wende ja einer Befreiung gleich gekommen sein und solche Menschen können meist überhaupt nicht verstehen, wieso sich jemand ein besseres, feieres Leben schwierig finden könnte.
Ich dagegen finde es immer wieder faszinierend, wie wenig vielen Leuten bewusst ist, woher ihre Überzeugungen kommen. Denn die Gewissheit im „richtigen“ System zu leben, während das andere verdammungswürdig war, das ist natürlich Kalte Kriegs Rhetorik. Und jetzt werfen Menschen, die 31 Jahre nach Ende des Kalten Krieges noch kein neues Weltbild entwickelt haben, Menschen, die eine riesige Veränderung erlebt haben, vor, dass sie sich noch nicht vollständig angepasst haben. Witzig oder? Na ja und manchmal auch ganz schön frustrierend.
In solchen Zeiten vermeide ich die Kommentarspalten meist ganz, sonst wird das schwer mit dem Glauben an die Menschheit. Andererseits muss ich sie auch gar nicht lesen, denn die Kommentarspalten kommen zu mir: meine Schüler*innen geben im Unterricht treu wieder, was ihre Eltern ihnen am Abendessenstisch zu erzählt haben. Manche Eltern wären sicher froh, wenn ihre Kinder das nicht so offen erzählen würden. Aber das Gute hier ist: da kann ich auch noch eine andere Perspektive einbringen und manchmal hören die Schüler*innen mir auch zu. Das ist doch schon mehr als so eine Kommentarspalte mir gibt.