Ich lebe jetzt schon 15 Jahre in Westdeutschland. Und wenn ich diesen Satz hier so äußern würde, sähe ich mich sofort mit ein paar verschnupft dreinschauenden Mienen konfrontiert. Wahrscheinlich würde es dabei bleiben, denn hier sagt man nicht immer direkt, was man denkt (mit allen Vor- und Nachteilen dieser Praxis). Manchmal jedoch äußert auch jemand seine Meinung dazu und die ist fast immer: „Was soll denn dieses Spalterische, wir sind doch schon längst ein Land, warum muss immer künstlich einen Keil dazwischen treiben?“ Und ich möchte anmerken, diese Haltung ist fast ausschließlich Menschen zu eigen, die Darmstadt und seinen Umkreis noch nie längere Zeit verlassen haben. Also die, die am wenigsten gut wissen können, ob der Keil künstlich ist oder einfach da.
Es sind auch diese Menschen, die den ausgeprägtestesten „Anti-Ost-Reflex“ haben. Den kann man sehr gut testen, indem man irgendetwas Positives über Ostdeutschland sagt (z.B. „Frauen und Ostdeutschland sind emanzipierter“ oder „durch die Erlebnisse der 90er Jahre ist meine Generation deutlich politisierter als ihre Altersgenossen hier“) und sofort kommt eine abwehrende Antwort zurück. „Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.“ oder einfach „Das stimmt nicht“. Ich bin noch nicht ganz da, wo ich diese unreflektierte Abwehr alles Positiven in Ostdeutschland (und kommt, dass es das nicht gibt, ist ja wohl einfach unwahrscheinlich) nur noch amüsant finden würde, aber ich bemühe mich sehr, Frust macht ja nur Falten. Umgedreht werden negative Nachrichten über Ostdeutschland mit offenen Armen empfangen. „Die Nazi sind dort besonders schlimm?“ Klar! (stimmt wahrscheinlich auch) oder „Nur die Dummen sind dort geblieben, wer intelligent war, ist in den Westen gegangen“. (stimmt so nicht und wäre dann wahrscheinlich auch für alle westdeutschen Abwanderungsgebiete richtig). Schön illustriert wird das am Buch von Anne Rabe, das dieses Jahr erschienen ist: „Die Möglichkeit von Glück“. In diesem macht sie sich auf, die angeblich allgegenwärtige Gewalt in Ostdeutschland (die ja eigentlich eher ein Phänomen der Transformationsszeit der 90er war) mit der ostdeutschen Geschichte zu erklären. Genauer gesagt mit ihrer Familiengeschichte. Das Buch hat mich und alle anderen, mit denen ich darüber gesprochen habe, verwirrt zurück gelassen. Denn sie erklärt nichts. Es ist ein Buch, was das Drama einer Familie schildert, aber was das ganze mit ostdeutscher Gesellschaftskultur zu tun hat, wird nur in Ansätzen klar. Vielleicht war es eine Verkaufsfinte von ihrem Verlag. Wenn ja – ein sehr erfolgreiche, denn wie kein anderes, in den letzten zwei Jahren erschienenes Buch zu Ostdeutschland, wird es in Westdeutschland begeistert rezipiert…denn es unterstellt den Ostdeutschen als Gesamtheit eine Neigung zur Gewalt und das wird gern gehört.
Und jetzt zurück zum Beginn. Ich fände es auch schön, wenn wir uns endlich als ein Land bezeichnen könnten. In vieler Hinsicht sind wir das auch. Aber wenn ich keinen Unterschied mehr zwischen Ost- und Westdeutschland machen soll, dann kann meine Heimat nicht nur die Projektionsfläche alles Negativen sein. Wenn wir ein Land sein wollen, dann doch idealerweise mit dem Besten, was beide Landesteile zu bieten haben. Mensch, würde das helfen, uns allen.
Zwei Schulen
Die neue Schule sieht der alten irritierend ähnlich. Der gleiche Eingang, die gleiche geschwungene Treppe nach oben. Der u-förmige Bau mit der Sporthalle auf der linken und dem Hortgebäude auf der rechten Seite. Die Fenster mit den sechs Teilen, der gepflasterte Hof. Typ SVB, lerne ich später. In der DDR sah viel gleich aus. Doch das ist nicht mehr die DDR, es ist auch noch nicht BRD und das wird ein Problem werden. Denn in der DDR sah nicht nur viel gleich aus, es war auch vieles gleich. Alle Kinder auf der gleichen Schule, alle Eltern im Kombinat und alle Bürger mit der gleichen politischen Einstellung (theoretisch). Jetzt ändert sich all das und Veränderungsprozesse sind nicht immer schön. Nur hat mir das noch niemand gesagt.
Ich betrete die neue Schule und verlasse das Schulsystem der DDR, die schon seit gut einem Jahr aufgehört hat zu existieren. Ich bin jetzt kein Kind mehr, das mit allen anderen auf eine Schule geht, ich gehe jetzt auf eine Regelschule, oder „die Schule für schlechte Schüler“. Das hat keiner der Erwachsenen so genannt, aber es ist klar. Es gibt auch eine „Schule für gute Schüler“, das Gymnasium. Meine alte Schule ist jetzt ein Gymnasium und ungünstigerweise sind viele meiner Freunde dort geblieben. Außer meiner besten Freundin, die ist gar nicht mehr hier, sondern auf einer „Hauptschule“ in Bayern. Für mich ein Land weit, weit weg. Ich beiße die Zähne zusammen und wünschte sie wäre da.
Auf der neuen Schule, die aussieht wie die alte, wird es keine Pioniere geben, keine Altstoffsammlungen und keine Klassenratsvorsitzenden. Zum Glück auch keine fiese Hortnerin und keinen Russischunterricht für mich. Nichts davon werde ich vermissen. Es wird aber auch keine Klasse geben, die ich seit sieben Jahren kenne, keine verlässlichen Strukturen, kein Richtig und Falsch und, das weiß ich noch nicht, keine Sicherheit.
In der neuen Schule, die aussieht wie die alte, werde ich das Wendechaos durchleben, mit all seinen, oft hässlichen, Auswirkungen. In einem Jahr werde ich genau wissen, wie Neonazis aussehen, welche Kleidung sie tragen und wie furchterregend sie sind. Ich werde verstehen, dass ich mich nicht darauf verlassen kann, dass Erwachsene mich schützen oder in ihrer Überforderung überhaupt wahrnehmen, dass es mir nicht gut geht. Ich werde Angst haben, mich ohnmächtig fühlen und irgendwann verstehen, dass mir keiner helfen kann, will und wird. Mehr als alles andere, wird das mich verunsichern, denn ich verstehe nicht, warum ich plötzlich in einer Welt lebe, in der Schutz vor Gewalt nicht mehr wichtig ist.
Drei Jahre später verlasse ich die Schule und gehe auf eine neue, die kein Typ SVB ist. Sie wird gut sein, sicherer. Und doch werden mich diese drei Jahre lange nicht verlassen. Weil man zwischen 13 und 16 ein Stück weit lernt, in der Erwachsenenwelt zu leben und für mich dies eine Welt voller Bedrohungen ist. Eine in der es gefährlich ist, eine andere Meinung zu haben. Eine in der man darauf achten muss, gemocht zu werden und eine, in der man nie auffallen darf.
Jahrelang werde ich viel Energie in die Kontrolle meiner sozialen Beziehungen stecken. Alle werden mich immer „nett“ finden. Ich werde in Beruf und Schule erfolgreich sein, um nie wieder aussortiert zu werden. Streiten werde ich mich ausschließlich mit Familie und engen Freunden. Wenn ich doch mal mit jemand weniger gut Bekannten aneinander gerate, wird es mich oft wochenlang beschäftigen.
Das wird viele Jahre gut gehen. Dann bekomme ich zwei Kinder und meine Energie wird endlich. Dafür werden meine Sorgen, dass ihnen, in dieser gefährlichen, unsicheren Welt, etwas Schlimmes passieren könnte, sehr groß. Aber noch wirkt die Welt sicher, planbar. Dann bekomme ich eine neue Chefin, die meine Arbeit nicht mehr schätzt. Dann wird mein Vater schwer krank und dann kommt Corona. Die Welt, die sich jahrelang sicher und kontrollierbar angefühlt hat, beginnt zusammen zu brechen und ich mit ihr.
Es dauert weitere zwei Jahre, bis ich verstehe, dass es viele Dinge waren, die mich Energie gekostet haben. Aber, dass es auch die Wende war. Dass diese Zeit im Chaos, in der keiner wusste, wie es weitergeht und niemand auf uns Kinder achten konnte, in mir ein Gefühl der Bedrohung hinterlassen hat, das mich mein ganzes Leben begleitet hat. Es ist schwer, das zu verstehen, weil es noch so wenig andere verstanden haben. Weil man jahrelang ein „Jammerossi“ war, wenn man nicht einfach nur froh über die Wende war.
Ich bin froh und dankbar. Für das freiere Leben, für die vielen Länder, die ich gesehen habe, für die Möglichkeit zu studieren, für die Möglichkeit mein Leben so zu leben, wie ich das entscheide und möchte. Dafür, dass ich in der Schule Inhalte lehren darf, die sich mit meinen Überzeugungen decken. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass die frühen Neunziger in Ostdeutschland brutal und unschön waren. Dass es kein guter Ort war um 13, 14 oder 15 Jahre alt zu sein und, dass diese Zeit mein Leben und das vieler anderer negativ beeinflusst hat.
Darüber zu sprechen muss möglich sein, ohne als schwach oder undankbar zu gelten. Und wenn das möglich ist, wenn die Härte der Transformationszeit anerkannt wird, dann wird vielleicht auch die Wut, die in Ostdeutschland existiert, milder werden. Denn die Wende war nicht so, wie sich das viele meiner Darmstädter Freunde vorstellen. Es war nicht nur der Fall der Mauer und dann lebten wir im Westen. Dazwischen gab es eine Zeit, in der zunächst alles, was wir kannten, verschwand und durch Chaos ersetzt wurde. Der neue Staat versagte in unseren Augen erstmal, bevor er funktionierte. Viele, die heute Mitte 40 sind und Wut auf den „Staat“ verspüren, haben diese Zeit als Jugendliche miterlebt. Mich wundert nicht, wo die Staatsskepsis herkommt. Natürlich sind diese Gefühle unreflektiert und wenig zielführend, wenn man davon ausgeht, dass die meisten Menschen eigentlich Sicherheit und Stabilität suchen. Aber solange es keinen Raum für die Reflexion dieser Erlebnisse gibt, werden sie bleiben und stören, bis sie gesehen werden.
Suche das Positive
Letzte Woche habe ich mit meinen (von den neuen Beschränkungen deprimierten) Schüler*innen Mindmaps erstellt. Darauf sollten sie all die Dinge schreiben, die sie noch tun können, selbst wenn so viel grade nicht mehr geht. Nach den Stunden fühlte ich mich gut und dachte „wird schon“. Neue Woche, neue Probleme und plötzlich ist hier nix mehr entpannt und ich bräuchte selbst eine „Positiv-Mindmap“.
Seit letzter Woche ist Hessen in der Oberstufe zum „Wechselmodell“ übergegangen. Das heißt, in der A-Woche ist die Hälfte des Kurses da, in der B-Woche die andere Hälfte. Wer nicht da ist, wird digital unterrichtet. Klingt gut? Tut es auch, nur hat man vergessen den Lehrer zu klonen. Der muss nämlich beides machen: Distanzunterricht, Präsenzunterricht und dann noch den Digitalunterricht für die Schüler*innen in Quarantäne. Das war ja alles (mit ein paar durchgearbeiteten Sonntagen) noch möglich. Allerdings schrieb dann heute der Hort meines Kindes, dass sie ab nächster Woche nicht mehr betreuen können – Personalmangel, zu viele Risikogruppen irgend so was. Und jetzt? Müsste ich an dem durchgearbeiteten Sonntag noch für die Woche vorkochen und mich nochmal klonen lassen, um mein Kind zwei Mal die Woche von der Schule abzuholen. Mein Unterricht geht nämlich länger als der Grundschulunterricht. Und für alle, die jetzt fragen wollen „und wo ist dein Mann?“ Na, der passt auf die Kinder auf, während ich den Sonntag durcharbeite und holt an den anderen drei Tagen ab.
Also alles nicht so leicht grade. Der Mann ist deprimiert von der Gesamtsituation, dass Kind sowieso sauer, weil die besten Freunde in der anderen Kohorte gelandet sind und ich auch nicht mehr ganz so happy mit der vielen Arbeit. Suche das Positive…es wäre ja auch irgendwie schön, wenn wir hier durchkämen, ohne wahnsinnig zu werden.
Also, wo sind die Chancen, die guten Sachen an dieser nervigen Krise? Na ja, erstmal vielleicht darin, dass ich gelernt habe, was „radikale Akzeptanz“ bedeutet. Also nicht zu jammern, weil etwas so ist, wie es ist und wie unfair das ist (konnte ich früher total gut), sondern zu überlegen, was könnte es denn Gutes daran geben? Mir fällt mittlerweile tatsächlich immer ziemlich schnell etwas ein: Wenn das Kind zu Hause bleibt, minimieren wir den Kreis unserer Sozialkontakte massiv: Im Hort ist nämlich nicht nur ihre Klasse, sondern Kinder aus drei verschiedenen Grundschulen, sowie Kindergartenkinder. Also kriegen wir das mit „nur ein Viertel der Kontakte“ super gewuppt. Außerdem zweifele ich grade ganz schön, ob ich das in der Schule noch lange so mitmachen möchte. Und die Tatsache, dass ich jetzt an vier Tagen der Woche keine Kinderbetreuung mehr habe, gibt vielleicht einen guten Ausweg (wenn ich das möchte). Also gar nicht so schlecht vielleicht. Und in der vielen Zeit, die ich dann zu Hause verbringe, kann ich endlich mal Klavier lernen, per YouTube – wollte ich schon seit ich ein Kind war und ein Keyboard staubt noch im Keller ein. Wer also sagt, das Positive sei nicht zu finden , der lügt. Wer allerdings sagt, das hier sei eine super Zeit – der hat vielleicht ein bisschen zu lange durch die Positivbrille geschaut. Da muss man auch vorsichtig sein.