Zwei Schulen

Die neue Schule sieht der alten irritierend ähnlich. Der gleiche Eingang, die gleiche geschwungene Treppe nach oben. Der u-förmige Bau mit der Sporthalle auf der linken und dem Hortgebäude auf der rechten Seite. Die Fenster mit den sechs Teilen, der gepflasterte Hof. Typ SVB, lerne ich später. In der DDR sah viel gleich aus. Doch das ist nicht mehr die DDR, es ist auch noch nicht BRD und das wird ein Problem werden. Denn in der DDR sah nicht nur viel gleich aus, es war auch vieles gleich. Alle Kinder auf der gleichen Schule, alle Eltern im Kombinat und alle Bürger mit der gleichen politischen Einstellung (theoretisch). Jetzt ändert sich all das und Veränderungsprozesse sind nicht immer schön. Nur hat mir das noch niemand gesagt.


Ich betrete die neue Schule und verlasse das Schulsystem der DDR, die schon seit gut einem Jahr aufgehört hat zu existieren. Ich bin jetzt kein Kind mehr, das mit allen anderen auf eine Schule geht, ich gehe jetzt auf eine Regelschule, oder „die Schule für schlechte Schüler“. Das hat keiner der Erwachsenen so genannt, aber es ist klar. Es gibt auch eine „Schule für gute Schüler“, das Gymnasium. Meine alte Schule ist jetzt ein Gymnasium und ungünstigerweise sind viele meiner Freunde dort geblieben. Außer meiner besten Freundin, die ist gar nicht mehr hier, sondern auf einer „Hauptschule“ in Bayern. Für mich ein Land weit, weit weg. Ich beiße die Zähne zusammen und wünschte sie wäre da.


Auf der neuen Schule, die aussieht wie die alte, wird es keine Pioniere geben, keine Altstoffsammlungen und keine Klassenratsvorsitzenden. Zum Glück auch keine fiese Hortnerin und keinen Russischunterricht für mich. Nichts davon werde ich vermissen. Es wird aber auch keine Klasse geben, die ich seit sieben Jahren kenne, keine verlässlichen Strukturen, kein Richtig und Falsch und, das weiß ich noch nicht, keine Sicherheit.
In der neuen Schule, die aussieht wie die alte, werde ich das Wendechaos durchleben, mit all seinen, oft hässlichen, Auswirkungen. In einem Jahr werde ich genau wissen, wie Neonazis aussehen, welche Kleidung sie tragen und wie furchterregend sie sind. Ich werde verstehen, dass ich mich nicht darauf verlassen kann, dass Erwachsene mich schützen oder in ihrer Überforderung überhaupt wahrnehmen, dass es mir nicht gut geht. Ich werde Angst haben, mich ohnmächtig fühlen und irgendwann verstehen, dass mir keiner helfen kann, will und wird. Mehr als alles andere, wird das mich verunsichern, denn ich verstehe nicht, warum ich plötzlich in einer Welt lebe, in der Schutz vor Gewalt nicht mehr wichtig ist.

Drei Jahre später verlasse ich die Schule und gehe auf eine neue, die kein Typ SVB ist. Sie wird gut sein, sicherer. Und doch werden mich diese drei Jahre lange nicht verlassen. Weil man zwischen 13 und 16 ein Stück weit lernt, in der Erwachsenenwelt zu leben und für mich dies eine Welt voller Bedrohungen ist. Eine in der es gefährlich ist, eine andere Meinung zu haben. Eine in der man darauf achten muss, gemocht zu werden und eine, in der man nie auffallen darf.

Jahrelang werde ich viel Energie in die Kontrolle meiner sozialen Beziehungen stecken. Alle werden mich immer „nett“ finden. Ich werde in Beruf und Schule erfolgreich sein, um nie wieder aussortiert zu werden. Streiten werde ich mich ausschließlich mit Familie und engen Freunden. Wenn ich doch mal mit jemand weniger gut Bekannten aneinander gerate, wird es mich oft wochenlang beschäftigen.

Das wird viele Jahre gut gehen. Dann bekomme ich zwei Kinder und meine Energie wird endlich. Dafür werden meine Sorgen, dass ihnen, in dieser gefährlichen, unsicheren Welt, etwas Schlimmes passieren könnte, sehr groß. Aber noch wirkt die Welt sicher, planbar. Dann bekomme ich eine neue Chefin, die meine Arbeit nicht mehr schätzt. Dann wird mein Vater schwer krank und dann kommt Corona. Die Welt, die sich jahrelang sicher und kontrollierbar angefühlt hat, beginnt zusammen zu brechen und ich mit ihr.

Es dauert weitere zwei Jahre, bis ich verstehe, dass es viele Dinge waren, die mich Energie gekostet haben. Aber, dass es auch die Wende war. Dass diese Zeit im Chaos, in der keiner wusste, wie es weitergeht und niemand auf uns Kinder achten konnte, in mir ein Gefühl der Bedrohung hinterlassen hat, das mich mein ganzes Leben begleitet hat. Es ist schwer, das zu verstehen, weil es noch so wenig andere verstanden haben. Weil man jahrelang ein „Jammerossi“ war, wenn man nicht einfach nur froh über die Wende war.

Ich bin froh und dankbar. Für das freiere Leben, für die vielen Länder, die ich gesehen habe, für die Möglichkeit zu studieren, für die Möglichkeit mein Leben so zu leben, wie ich das entscheide und möchte. Dafür, dass ich in der Schule Inhalte lehren darf, die sich mit meinen Überzeugungen decken. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass die frühen Neunziger in Ostdeutschland brutal und unschön waren. Dass es kein guter Ort war um 13, 14 oder 15 Jahre alt zu sein und, dass diese Zeit mein Leben und das vieler anderer negativ beeinflusst hat.

Darüber zu sprechen muss möglich sein, ohne als schwach oder undankbar zu gelten. Und wenn das möglich ist, wenn die Härte der Transformationszeit anerkannt wird, dann wird vielleicht auch die Wut, die in Ostdeutschland existiert, milder werden. Denn die Wende war nicht so, wie sich das viele meiner Darmstädter Freunde vorstellen. Es war nicht nur der Fall der Mauer und dann lebten wir im Westen. Dazwischen gab es eine Zeit, in der zunächst alles, was wir kannten, verschwand und durch Chaos ersetzt wurde. Der neue Staat versagte in unseren Augen erstmal, bevor er funktionierte. Viele, die heute Mitte 40 sind und Wut auf den „Staat“ verspüren, haben diese Zeit als Jugendliche miterlebt. Mich wundert nicht, wo die Staatsskepsis herkommt. Natürlich sind diese Gefühle unreflektiert und wenig zielführend, wenn man davon ausgeht, dass die meisten Menschen eigentlich Sicherheit und Stabilität suchen. Aber solange es keinen Raum für die Reflexion dieser Erlebnisse gibt, werden sie bleiben und stören, bis sie gesehen werden.

Nullerjahre

Vor einigen Wochen schrieb mich eine Freundin an. Ob ich mitkommen wolle zu einer Lesung. Sie erzählte von einem HipHop-Duo aus Berlin, von denen einer aus ihrer Heimat käme und der andere aus Ostdeutschland. Von einem Podcast, denn ich unbedingt hören müsse. Ich höre keine Podcasts und brummelte etwas verhalten Zustimmendes. Aber zur Lesung wollte ich mit – hatte ich mir doch vorgenommen, endlich aus dem Corona-Sofa-Loch hervorzukommen und wieder mehr zu machen. Direkt davor bereute ich es natürlich – was interssierte mich ein HipHopper aus Berlin? Nichts könnte ferner von meiner Lebensrealität sein. Außerdem musste ich am Mittwoch früh raus. Aber ich hatte Eintritt bezahlt, es versprochen und wollte ja ohnehin von meinem durchgessenen Sofa runter.

Und so saß ich am Dienstag Abend auf einem harten Holzstuhl in der Darmstädter Centralstation, als drei Menschen schwungvoll auf die Bühne traten. Einer hatte ein gelbes Buch in der Hand und begann es mit den Worten vorzustellen: „Die Generation, die zehn Jahre vor mir im Osten geboren wurde, hat die DDR noch erlebt und ihre Jugend im Chaos verbracht. Wir sind gleich ins Chaos hineingeboren wurden.“ Ich rutschte auf meinem Holzstuhl ein Stück vor und fixierte ihn – da sprach jemand mit der größten Selbstverständlichkeit vom Chaos, als das ich meine Jugend empfunden hatte, so als wäre es eine Tatsache. Und von einer Generation, die ich immer ein wenig beneidet hatte: die nach mir – weil ich dachte, dass sie diesen Umbruch nicht mehr erleben mussten. Aber natürlich – Kindheitschaos ist vermutlich nicht viel angenehmer als Jugendchaos. Hendrik Bolz, der HipHopper mit der vermutet fernen Lebensrealität, hatte meine ungeteilte Aufmerksamkeit.

Den Rest des Abends und eigentlich die darauffolgenden Wochen, verbrachte ich in einer gewissen inneren Aufruhr. Hendrik Bolz las von Hoffnungslosigkeit, fehlenden Grenzen und einer Atmosphäre von Gewalt, wie ich sie Anfang der 90er auf der Realschule in Jena erlebt hatte. Ich hatte das immer für eine individuelle Erfahrung gehalten und vermutet, dass ich – behütetes Kind einer Akademikerfamilie – zu empfindlich gewesen war und harmlose Dinge als zu dramatisch wahrgenommen hatte. Aber er beschrieb genau das und es klang auch in seiner Beschreibung dramatisch – war das vielleicht ein strukturelles Problem der Nachwendezeit gewesen und gar nicht mein persönliches?

In den folgenden Wochen kann ich das Buch noch nicht lesen. Aber ich höre zum ersten Mal einen Podcast, den, „Testo“ (so der Künstlername von Hendrik Bolz) gemeinsam mit dem anderen Teil von des HipHopperDuos „Zugezogen Maskulin“ betreibt. Höre Geschichten vom Aufwachsen in West- und Ostdeutschland und in den ostdeutschen Geschichten immer wieder das gleiche Erleben von Chaos, Gewalt und Haltlosigkeit, das ich auch empfunden hatte. Ich entdecke einen mir bis dahin unbekannten Hashtag auf Twitter, die #baseballschlägerjahre, und lese dort Geschichten von brutaler Nazigewalt, von Schlägen, Rennen und abwesender Polizei. Und langsam beginnt sich mein eigenes Erleben in diese Geschichten einzuordnen und lang verschüttete Bruchstücke tauchen auf.

Von Kindern, die durch durch ein Loch im Schulzaun auf die benachbarte, verlassene Sowjetkaserne kriechen und im Boden Munition finden, die sie mit auf dem Schulhof nehmen. Von Lehrer*innen, die hilflos und verängstigt vorn stehen, während die ganze Klasse die Tische grölend auf sie zuschiebt, bis sie weinend rausrennen. Von Kindern, die im Unterricht so schlimm geärgert werden, dass sie nicht mehr zur Schule kommen. Von Prügeleien vor der Schule, bei denen Kinder zu Boden getreten und weiter geschlagen werden, ohne das jemand eingreift. Von Schlägern, die am nächsten Tag versuchen, sich mit mir normal zu unterhalten, als wäre das keine Ausnahmesituation gewesen. Von einer Polizei, die nicht kommt, von SS-Runen und Hakenkreuzen, die im Unterricht herumgehen. Von Lehrer*innen, die nichts dazu sagen, weil sie auch nicht wissen, ob das jetzt richtig oder falsch ist im neuen Staat. Von Unterricht, der nicht stattfindet, weil die Lehrer*innen auf Fortbildung, ständig auf Fortbildung sind. Von Lehrplänen, die noch gar nicht da sind. Und von Angst. Von Lehrer*innen, die auf dem Schulausflug zueinander sagen „Vor dem Tobias, da hab ich echt Angst, der ist dumm und gewalttätig.“, die aber trotzdem nicht gegen ihn vorgehen. Von Glatzen, Springerstiefeln, betrunkenen Skinheads, der Angst Straßenbahn zu fahren, von Demütigungen, Alkohol, Drogen, Orientierungslosigkeit und Nazis, die plötzlich allgegenwärtig sind. Von meiner eigenen 13jährigen Unfähigkeit die Welt, die ich in der Schule erlebe mit den Werten von zu Hause und den Büchern in Einklang zu bekommen, die ich lese. Von Mitschülern ohne Haare und in Springerstiefeln, die im ersten Anlauf im Bewerbungsgespräch bei der Polizei genommen werden. Von einer Polizei, die nicht kommt, wenn sie zu Nazischlägereien gerufen wird, die aber Mitglieder der Jungen Gemeinde Stadtmitte für 30 Minuten an der Wand stehen lässt, um ein Gramm Hashisch zu finden. Von der tiefen ungläubigen Verwunderung darüber, was mit meiner Welt passiert und warum ich dort nicht mehr hineinpasse. Von abwesenden Erwachsenen, die so gefordert vom Umbruch sind, dass sie uns nicht mehr sehen. Und von dem unglaublichen Gefühl von Sicherheit, Ordnung und Zuverlässigkeit, das ich empfinde, wenn ich meine Großcousine in Münster/Westfahlen besuche, in einer Welt, die sich nicht mehr von meiner unterscheiden könnte und um die ich sie so sehr beneide.

Über Weihnachten lese ich endlich das Buch. Und verstehe zum ersten Mal, wie sich die, die prügelten, mobbten und provozierten vielleicht gefühlt haben. Und ich verstehe auch zum ersten Mal, dass ich nicht zu empfindlich war, dass die Angst vor Hass, Gewalt und Regellosigkeit völlig angemessen war, in dem Umfeld, in dem ich mich damals bewegte. Es ist als würde sich in meinem Inneren etwas verschieben, plötzlich rücken viele Puzzleteile auf eine andere Stelle. Das Puzzle ist noch lange nicht fertig, aber ich bin der Freundin dankbar, dass sie mich von Coronasofa gezerrt hat und Hendrik Bolz für ein ungewöhnlich klarsichtiges Buch, das, zumindest für mich, sehr wichtig war zu lesen.